Methoden der Pilzbestimmung - Probleme und neue Wege 

Ruedi Winkler
Benedikt Fontana-Weg 5, 8049 Zürich
 

Wer hat Recht?
Eine Ansammlung von Pilzkundlern, die sich über die Bestimmung eines problematischen Pilzes unterhalten, erweckt wohl oft den Eindruck einer besonders streitsüchtigen Gruppierung. Neben interessanten Auseinandersetzungen gibt es viele unnötige Streitereien. Mögliche Ursachen für die Meinungsverschiedenheiten:
Die Vorstellung über das Aussehen bestimmter Arten ist bei jedem anders. Sie bildet sich meist aufgrund der Palette gesehener Exemplare, und diese können bekanntlich sehr verschieden sein
Die Artenbeschreibungen in der Literatur sind nicht einheitlich. Zum Teil finden sich wesentliche Unterschiede.
Viel Streit könnte sofort beendet werden, wenn die Beteiligten die Gründe für ihre Namensgebung darlegten. Vielleicht stellt sich heraus, dass eigentlich beide Recht haben, dass sie sich lediglich auf verschiedene Grundlagen stützen.
Hartnäckige Streithähne fahren weiter, sie sind überzeugt von der Überlegenheit ihrer Informationen, während sie ihr Gegenüber für ein bedauernswertes Opfer schlechter Literatur oder ungebildeter Lehrer halten. In diesem Fall müsste auf die gültige Erstbeschreibung zurückgegriffen und wenn möglich eine Pilgerfahrt zum Exsikkat des Holotypus unternommen werden. Aber selbst dieser Aufwand garantiert keine Klarheit. Plötzlich wackelt noch Grundsätzlicheres. Was ist denn eigentlich eine Art? Gibt es sie lediglich in unserem Denken, während es draussen in der Natur nur einzelne mehr oder weniger ähnliche Individuen gibt? Dazu einige Information aus dem Biologiebuch.
Individuen der gleichen Art sollen:
in den wesentlichen Merkmalen übereinstimmen (Morphospezies)
fruchtbare Nachkommen haben können (Biospezies)
dieselben Ansprüche an den Lebensraum haben (Oekospezies)
denselben Stammbaum haben.
Diese Punkte lassen sich gar nicht immer widerspruchsfrei klären. Besondere Schwierigkeiten bei den Pilzen bereitet beispielsweise gerade die sehr wichtige Frage nach möglichen fruchtbaren Nachkommen. Praktisch alle Pilze, die mit Bäumen in einer Symbiose leben (Mykorrhizapilze), sind im Labor nur schwer zu züchten und fruktifizieren, wenn überhaupt, ganz selten.
Wenden wir uns nach diesem kleinen Exkurs wieder der Pilzbestimmung zu. Denn neben einzelnen und z.T. untypischen Kollektionen - diese sind meistens für die bekannten, ausgiebigen Diskussionen verantwortlich - sind doch sehr viele Pilze eindeutig bestimmbar.


Bestimmung nach Literatur, Schlüssel
Das Ziel einer Bestimmung mit einem Buch könnte man wie folgt umschreiben:
Es geht darum, im Buch eine Art zu finden, die in allen angegebenen (wesentlichen) Eigenschaften mit dem zu bestimmenden Pilz übereinstimmt. Um aus Hunderten oder Tausenden von Beschreibungen die richtige herauszusuchen, braucht man ein System, einen Schlüssel, sonst ist man im unüberblickbaren Meer von Pilznamen hoffnungslos verloren. Dafür gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Wege.

 
Traditionelle Schlüssel
Durch Beantworten einer festen Reihenfolge von Fragen dringt man in immer speziellere Gruppen vor, bis schliesslich nur noch eine Art übrigbleibt. Gibt es pro Frage nur zwei Antworten, nennt man einen solchen Schlüssel «dichotom», gibt es mehrere Möglichkeiten, nennt man ihn «polychotom». Bekannte Beispiele sind die Bücher von M. Moser mit dichotomem und von M. Bon mit z.T. polychotomem Schlüssel.

Synoptische Schlüssel
Auf einem anderen Prinzip basiert der synoptische Schlüssel. Anstatt die Fragen in einer festen Reihenfolge durchzunehmen, können Benutzerinnen und Benutzer aus einer Menge von vorgegebenen Fragen zu bestimmten Eigenschaften frei wählen, welche sie zuerst beantworten wollen. Der synoptische Schlüssel liefert für jede Antwort eine Liste mit jenen Arten oder Gattungen, die diese Eigenschaft tragen. Ein Beispiel: Sondert der Pilz beim Brechen Milch ab, so ist die Liste der ´milchenden Gattungenª (unter den Röhren- und Blätterpilzen) sehr kurz, sie enthält nur zwei Gattungen. Es muss sich um einen Milchling oder einen Helmling handeln. Hat der Pilz zudem dickes Fleisch, so fallen die Helmlinge ausser Betracht; sie fehlen auf der Liste der dickfleischigen Gattungen. Damit hat man einen Milchling schon bestimmt. Dieses Vorgehen entspricht weitgehend unserem Denken. Der Vorteil ist offensichtlich. Es können diejenigen Merkmale zur Bestimmung herangezogen werden, die sicher und zweifelsfrei feststellbar sind; reichen diese zur Bestimmung noch nicht aus, kann man immer noch auf kritischere Merkmale zurückgreifen. Allerdings geht es nicht immer so einfach wie im genannten Beispiel. Normalerweise müssen mehrere Listen miteinander verglichen und jene Namen herausgesucht werden, die auf allen Listen vorhanden sind. Im grösseren Rahmen ist dies nur mit einem Computer möglich. Beispiele dafür sind die CD zur ´Flora helveticaª von K. Lauber und G. Wagner (Pflanzenarten) und das Bestimmungsprogramm zu ´2000 Pilze einfach bestimmenª (Pilzgattungen).
 

Perspektive bei der Weiterentwicklung synoptischer Schlüssel
Synoptische Schlüssel haben etwas Bestechendes. Trotzdem treten auch damit gewisse Probleme auf. Wie jeder weiss, sind Pilze sehr variabel. Die gleiche Art kann z.B. gelb oder grün erscheinen. Auch die Interpretation eines Merkmals am selben Pilz ist nicht immer gleich. Wo einige Leute freie Lamellen sehen, bezeichnen sie andere als schmal angeheftet. Bei Röhrlingen findet sich manchmal an der Stielspitze eine Netzmusterung angedeutet. Wieviel braucht es, dass es als Netz gilt? Wo liegt die Grenze zwischen glatten und rauhen Sporen? Was fängt man mit Formulierungen wie «meistens mit Buckel» oder «selten gerieft» an, wenn man nur zwei Exemplare eines Pilzes vor sich hat? Im Umgang mit dem Computer können für diese Probleme Modelle entwickelt werden.
 

Absolute Wahrscheinlichkeiten
Es ist möglich, bei der Verschlüsselung der Merkmale immer eine Wahrscheinlichkeit anzugeben. Z.B.: Die Pilzart A ist in 70% der Fälle grün, in 29% gelb und in 1% der Fälle trägt sie eine andere Farbe. Aufgrund solcher Angaben kann der Rechner aus einer Reihe von Merkmalen für die verschiedenen verschlüsselten Arten Wahrscheinlichkeiten errechnen.
In Tabelle 1 sind für drei bekannte Pilze einige Eigenschaften in dieser Art verschlüsselt. Die Werte bedeuten die Wahrscheinlichkeit in Prozent, dass die betreffende Eigenschaft einem Pilz zuerkannt wird (er muss sie nicht wirklich haben!). Unwahrscheinliche Merkmale erhalten ganz kleine Werte, aber nie 0. So bleibt die Möglichkeit erhalten, auch bei einer Fehleingabe eine Art durch genügend andere, gut zutreffende Merkmale zu bestimmen.

Tabelle 1
Artname  Hutfarbe  Lamellenansatz  Ring
   rot  weiss  frei  ausgebuchtet  herablaufend  mit  ohne
Fliegenpilz  97,0  3,0  95,0  4,9  0,1  95,0  5,0
Speitäubling  99,0  1,0  5,0  94,0  1,0  0,1  99,9
Mönchskopf  0,1  99,9  0,1  1,0  98,9  0,1  99,9

Angenommen, wir haben einen Pilz vor uns mit rotem Hut, freien Lamellen und Ring. Mit welcher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um jeden der verschlüsselten Pilze? Für den Fliegenpilz sprechen ca. 87,5%, für den Speitäubling weniger als 0,01% und für den Mönchskopf ist das Resultat praktisch 0. Diese Werte errechnen sich aus dem Produkt der Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen Merkmale. Für den Fliegenpilz gilt z.B. 0,97 x 0,95 x 0,95 = 0,875. Das ist weiter nicht erstaunlich. Entsprechend ähnliche Resultate entstehen, wenn wir die richtigen Merkmale für den Speitäubling oder den Mönchskopf eingeben.

Relative Wahrscheinlichkeiten 
Bleiben wir beim Pilz mit rotem Hut, freien Lamellen und Ring. Das Resultat wird noch deutlicher, wenn wir folgende Frage stellen: Wenn es einer von den drei verschlüsselten Pilzen sein muss (wir nehmen zur Vereinfachung an, dass es nur diese drei Pilzarten gibt), welche Wahrscheinlichkeit ergibt sich dann für jeden? Mit dieser Frage kommen wir zu noch deutlicherem Resultat: Für den Fliegenpilz sprechen über 99,9%, die beiden anderen Arten sind gänzlich unwahrscheinlich. Auf diesem Rechenmodell basieren die Ergebnisse in der Tabelle 2. Was passiert bei einer Fehlbeurteilung, wenn wir z.B. am Fliegenpilz keine Ringreste mehr finden? Oder wenn jemand einen Querriss im vertrockneten Stiel eines Mönchskopfes als Ringreste interpretiert? Die Mathematik (das Theorem von Bayes) bietet uns einen Wert, der besagt, welche von den verschlüsselten Pilzarten dem Exemplar mit den eingegebenen Eigenschaften am nächsten kommt. Dieser Wert ergibt sich aus der Wahrscheinlichkeit für den betreffenden Pilz geteilt durch die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller möglichen (verschlüsselten) Pilze.

Tabelle 2

Eigenschaften:  Hutfarbe:  rot  rot  rot  weiss  weiss
 Lamellenansatz:  frei  herablaufend  ausgebuchtet  herablaufend  frei
 Ring:  ohne Ring  mit Ring  mit Ring  mit Ring  ohne Ring

resulierende Wahrscheinlichkeiten:  Fliegenpilz:  48,23  98,80  97,98  2,80  48,80
 Speitäubling:  51,76  1,10  2,02  0,01  17,10
 Mönchskopf: 0,001  0,10  fast 0  97,19  34,10

Aus der ersten Kolonne lesen wir z.B., dass ein roter Pilz mit freien Lamellen und ohne Ring dem Speitäubling etwas näher steht als einem Fliegenpilz. Dies natürlich immer nur aufgrund der getroffenen Annahmen. Die absolute Wahrscheinlichkeit (Tabelle 1), dass ein weisser Pilz mit herablaufenden Lamellen und Ring ein Mönchskopf ist, beträgt nur knapp 0,1%. Wenn es aber einer von den dreien sein muss, dann steht der Mönchskopf eindeutig am nächsten. Das zeigt der entsprechende Wert von 97,19% in der vierten Kolonne von Tabelle 2. Die beiden anderen Arten sind viel unwahrscheinlicher.
Dies ist nur ein Beispiel mit drei Pilzen, und diese Vereinfachung wirkt zugegebenermassen etwas künstlich. Hat man aber einmal eine ganze Gruppe von Pilzen (z.B. eine Gattung) mehr oder weniger vollständig verschlüsselt, wird diese Methode für Bestimmungen sehr interessant. Sie zeigt uns nicht nur, welche Art der eingegebenen Kombination von Merkmalen am nächsten kommt, sondern wir erhalten auch einen Wert für diese Nähe. Das ist ein sehr wertvolles Resultat und in dieser Art mit keiner der bisherigen Methoden erreichbar. Zudem ist sie gegenüber Fehlern tolerant. Durch eine falsche Interpretation eines Merkmals ist nicht zwangsläufig die ganze Bestimmung unbrauchbar.

Fazit
Trotz der interessanten Möglichkeiten, die dieses Modell bietet, für übertriebene Euphorie besteht noch wenig Grund, ebensowenig auch für die oft geäusserten Ängste, durch den Computer würden die speziellen Fertigkeiten überflüssig gemacht, die heute zu einer erfolgreichen Bestimmungsarbeit zweifellos erforderlich sind. Denn bis das Wissen eines guten Pilzkenners verschlüsselt ist und zwar so, dass die Rechnerei keinen Unsinn produziert, geht es noch ein Weilchen. Ganz abgesehen davon, dass auch das beste Programm niemandem etwas nützen wird, der die Begriffe zur Pilzbestimmung nicht sauber interpretieren kann. Dazu braucht es weiterhin viel Erfahrung, Exkursionen, Bestimmungsabende im Verein und vielleicht nicht zuletzt hie und da einen lehrreichen Streit über die richtige Bestimmung.

Dank
Ich danke Herrn U. Fischbacher, Universität Zürich für grundlegende Informationen, Herrn Prof. H. Clemençon, Universität Lausanne und Herrn H.-P. Kellerhals, Uster für weiterführende Gespräche sowie Literaturhinweise und Herrn I. Cucchi, Obfelden für die kritische Überarbeitung.

 

© 10. 2013 · R.Winkler · Emailemail senden